„Hallo Tobias, bist du da?“ Vorsichtig schob Petra den Kopf durch die Tür.
Die Sonne erhellte die kleine Werkstatt durch zwei einfache Fenster. Ein Sonnenstrahl ließ Staubkörner auf der Tischtennisplatte in der Mitte des Raumes tanzen, der andere fiel auf eine Katze, die es sich hinter einem zersägten Kettcar gemütlich gemacht hatte. Sonst beherrschte das für Parkinsonerkrankte typische kreative Chaos den Raum.
Er war vollgestopft mit allerlei Gerätschaften und bis zum Rand mit Kram gefüllten Boxen und Kartons. Schraubendreher, Hammer und Nägel, Akkuschrauber und Zangen lagen wahllos herum, dazwischen Uhren in jeder erdenklichen Größe, Form und Farbe. Ob heil und tickend, oder ausgeweidet und als Ersatzteillager missbraucht, hier war fast jede Sorte Uhr, die es auf der Welt gab, vertreten. Dann gab es noch jede Menge Gefäße oder sonstige Dinge, die zu Gehäusen verbaut werden konnten. An den Wänden hing das Ergebnis dieses ganzen Wirrwarrs – die fertigen Stücke. Es waren die schönsten, kreativsten und fantasievollsten Uhren, die man sich vorstellen konnte.
Petra ließ den Blick über das bunte Chaos schweifen, atmete tief ein und machte einen großen Schritt über das halbierte Kettcar. Dabei trat sie knapp an der Katze vorbei, die erschrocken aufjaulte, einen halben Meter in die Luft sprang und als Kugelblitz aus Fell davonsauste. Hinter der Tischtennisplatte tauchte ein Kopf mit wildem Haarschopf über einer Schweißerbrille auf, rief „Hilfe, eine Frau!“ und verschwand wieder.
Petra lachte laut auf. Vorsichtig richtete sich der Mann mit dem chaotischen Haarschopf samt Schweißerbrille auf und trat mit einem schiefen Grinsen im Gesicht hinter der Tischtennisplatte hervor. Er hielt eine große flache Wanduhr wie ein Schutzschild vor seinen Bauch. „Hallo Petra. Ich bin Besuch gar nicht mehr gewöhnt. Danke, dass du vorbeikommst und mit mir sprichst.“
„Warum sollte niemand mit dir sprechen?“ fragte Petra. Ihre Augen fixierten die Uhr vor Tobias Bauch, auf der sich ein Zeiger langsam drehte. Er wedelte mit seiner freien Hand in Richtung Werkbank und sagte, „Da hinten liegt ein Zettel, da steht alles drauf.“ Petra bahnte sich einen Weg durch die auf dem Boden herumliegenden Teile und fand auf der Werkbank den Beipackzettel eines Parkinsonmedikaments.
„Informieren Sie Ihren Arzt, wenn Sie oder Ihre Familie / Ihr Betreuer bemerken, dass Sie einen Drang oder ein Verlangen entwickeln, sich in einer ungewöhnlichen Weise zu verhalten, und sich dem Impuls, dem Trieb oder der Versuchung nicht widerstehen können, bestimmte Dinge zu tun, die Ihnen selbst oder anderen schaden können.“
Fragend schaute Petra zu Tobias herüber. „Was soll das heißen?“ Tobias trat von einem Bein auf das andere und umklammerte die Uhr vor seinem Bauch noch fester, was dazu führte, dass der kreisende Zeiger in Schwingung geriet und anfing zu vibrieren. Fasziniert schaute Petra auf die Uhr, während Tobias vorsichtig antwortete: „Das heißt, ich leide unter Impulskontrollstörungen, in meinem Fall ist es eine Art Sexsucht.“ Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm dieses Thema peinlich war.
„Deshalb verschanzt du dich also hier in der Werkstatt?“ Petras Frage war eher eine Feststellung. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihren alten Schulfreund zu ihrer Gartenparty einzuladen. Sie mochte den schrulligen Bastler und konnte sich gar nicht vorstellen, dass er jetzt ein sexsüchtiges Monster sein sollte. Was sollte sie jetzt machen?
Ein lauter Knall riss sie aus ihren Gedanken. Der Raum wurde in ein grelles Licht getaucht und ein starker Luftzug wirbelte alles durcheinander. Tobias und Petra warfen sich auf den Boden und hielten ihre Hände schützend über den Kopf. Nach einer Weile legte sich alles und ein Regen aus Uhren, Schrauben und Zahnrädern fiel auf sie herab. Langsam standen sie auf und klopften den Staub von ihren Kleidern und schauten sich um.
Direkt vor ihnen lag eine große Kugel auf dem Boden, die in wunderschönen changierenden Farben leuchtete. Petra wollte sich gerade danach bücken, als sie eine Stimme hörte, die aus der Kugel kam. „Verdammt nochmal, immer dasselbe Problem. Das darf doch nicht wahr sein!“ die Stimme wurde lauter und wütender. „Verfickte Scheiße! Wie komme ich jetzt bloß aus diesem Ding raus“ Bei „raus“ öffnete sich die Kugel wie eine Blüte und eine eben noch zusammengekrümmte Gestalt richtete sich mit geballten Fäusten und hochrotem Kopf vor ihnen auf.
„Große Kackwurst!“ schrie sie. Dann entdeckte sie Tobias und Petra und schluckte den Rest ihres Fluchs herunter, richtete sich auf, zog ihr mit Perlen besetztes hautenges Kleid glatt und räusperte sich. „Petra und Tobias?“ Ihre Stimme wurde sanft wie Honig. Sie sprach weiter, bevor die beiden antworten konnten. „Ich bin Dopaphrodite, die Freundin aller Männer mit Parkinson. Manchmal bin ich auch der Freund aller Frauen mit Parkinson, oder der:die Freund:in aller Personen mit Parkinson. Habe ich etwas vergessen?“ Sie runzelte die Stirn und sprach mit feierlicher Mine weiter. „Ich bin hier, um dich, Tobias, von deinem Leid der Hypersexualität, also der Sexsucht zu befreien.“
Tobias Kinnlade klappte herunter und Petra kniff ein paar Mal die Augen zusammen. Tobias fing sich als erster und stellte die erste Frage, die ihm in den Sinn kam. „Und was ist mit dem Parkinson?“ Dopaphrodite stemmte ihre Hände in die Hüften. „Ich glaube es hackt! Ich mache mir Mühe einen würdigen Auftritt hinzulegen, bereite alles vor, lerne den Text, ganz zu schweigen von der Technik, dem Licht, der Choreographie, dem Make-up und meiner Frisur“. Dabei strich sie mit den Händen über ihr Haar und bemerkte erst jetzt, dass die Frisur ruiniert war. Wütend zerrte sie an ein paar Schrauben und Zahnrädern, die sich in ihrem Haar verfangen hatten, konnte sie aber nicht lösen und gab schließlich mit einem tiefen Seufzer auf.
„Den Parkinson darfst du behalten. Der gehört nicht in meinen Zuständigkeitsbereich.“ sagte sie schnippisch. Tobias wollte antworten, aber Petra stieß ihm kräftig in die Rippen und er schwieg. „Es ist deine Entscheidung“ sagte Dopaphrodite. „Das Codewort lautet „Gartenparty“. Sag es, und du bist deine Sexsucht los. Die Entscheidung liegt ganz bei dir. Überlege es dir gut, ich würde es machen!“ Die Kugel schloss sich, begann zu glühen und sich zu drehen, bis sie immer kleiner wurde und schließlich verschwand.
Tobias und Petra blieben eine Weile wie angewurzelt nebeneinander stehen, dann räusperte sich Petra. „Ich bin eigentlich gekommen, um dich zu meiner Gartenparty am nächsten Samstag einzuladen.“ Tobias bedankte sich für die Einladung. „Das ist die erste Gartenparty der Saison! Vielen Dank, da komme ich doch gerne.“
Als er Petra zum Abschied winkte, trat Tobias einen Schritt zurück. Unter seinen Füßen knackte es und er schaute herunter auf den zertretenen Zeiger einer großen Wanduhr.
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