Egal was ihr denkt, es gibt ihn wirklich

Weil, ich habe ihn gesehen

Damals, in den späten 60er Jahren, war mein Leben geprägt von Geschichten. Ich saugte alles auf, jedes Märchen, das mir meine Mutter vorlas, jede Gute Nacht Geschichte, die mein Vater erfand, meine Lieblingsserien im amerikanischen Fernsehen, Mein Onkel vom Mars, Lost in Space und die Munsters. Das alles prägte mich und formte mein Rollenverständnis. (Männern wachsen Radioantennen aus dem Kopf und sie wohnen in Garagen. Frauen sehen mit 137 Jahren noch blendend aus und obwohl sie Feministinnen sind, bleibt die Hausarbeit an ihnen hängen.)

Es war also Heiligabend. Ich konnte es kaum erwarten, dass der Weihnachtsmann endlich die Geschenke brachte. Schließlich fieberten wir schon sehr lange diesem Moment entgegen. Ich dachte an die schönen Weihnachtsgeschichten, die mir meine Eltern vorgelesen und an die vielen schönen Weihnachtslieder, die wir im Kindergarten gesungen haben. Ich liebte die Geschichte von Rudolph, dem Rentier mit der roten Nase und konnte die Namen aller Rentiere, die den Schlitten des Weihnachtsmannes zogen, in einem Atemzug aufsagen.

Ich hatte mein Lieblingskleid aus rotem Cord angezogen und spielte zusammen mit meinem Bruder im Kinderzimmer. Wir waren furchtbar aufgeregt und fragten ständig unsere Eltern, wann es endlich so weit sei. Wir konnten die Spannung kaum ertragen. Und da passierte es. Ich musste auf die Toilette. Ausgerechnet jetzt. Was ist, wenn der Weihnachtsmann kommt, während ich auf dem Klo sitze? Da verpasse ich doch alles und kriege wohlmöglich keine Geschenke, weil ich nicht da bin. Kaum auszudenken! Was sollte ich tun? Anhalten, bis er kommt? Ja, aber wann kommt er denn?

Ich hielt so lange an, bis es nicht mehr ging und flitzte dann in einem Affenzahn auf die Toilette, machte mir nicht die Mühe das Licht anzuschalten – jede Sekunde zählt! – setzte mich mit einem Seufzer auf die Brille und schaute aus dem Fenster. Und da sah ich ihn. Er kam mit seinem Schlitten hinter einer Wolke hervor und flog einen eleganten Bogen über das Dach unserer Nachbarn und verschwand hinter ihrem First. Es waren nur Millisekunden und auch nur eine Silhouette, aber es war eindeutig zu erkennen. Der Schlitten, die Rentiere, der Weihnachtsmann mit seiner Mütze und der Sack mit den Geschenken. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Ich habe den Weihnachtsmann gesehen! Das hat noch niemand bisher geschafft. Wahrscheinlich, weil ich kein Licht gemacht habe. Das war für mich die einzige logische Erklärung.

Schnell zog ich die Hose hoch, wusch meine Hände und rannte zu meinen Eltern mit der Botschaft „Er kommt gleich, er ist schon bei den Nachbarn, ich habe ihn gesehen!“ Ungläubige Gesichter schauten mich an. Niemand hat mir geglaubt – bis heute nicht. Aber ich bin immer noch zu 100 Prozent sicher, ich habe ihn gesehen.

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